Rawls, John
, geboren 1921 in Baltimore, USA, gestorben 24. 11. 2002, 1953 Assistenzprofessor für Philosophie an der Vornell University; 1955-1957 erste wichtige Veröffentlichungen — Vorläufer der Gerechtigkeitsgrundsätze; 1962 Professor für Philosophie an der Harvard University; 1971 Veröffentlichung von „A Theory of Justice”. 1980 Veröffentlichung von „Kantian Constructivism in Moral Theory”; 1991 Emeritierung; 1993 Veröffentlichung von „Political Liberalism”, „The Law of Peoples” (1999); „Justice as Fairness” (2001).
Rawls führt in der 1971 erschienenen „A Theory of Justice” die Gedanken der Utilaristen Bentham und Mill weiter und greift auf den Gedanken des Sozialvertrages zurück (Neo-Kontraktualismus), um die „Principles of Justice” zu finden, die geeignet sind, „social justice” in einer „well-ordered society” zu garantieren. Er sucht die Gerechtigkeitskonzeption, die am besten geeignet ist, die fairen Regeln sozialer Kooperation unter Bürgern zu ermitteln, die als frei und gleich und ein Leben lang kooperierend angesehen werden. Nach seiner Auffassung würden sich rational handelnde Menschen auf zwei Prinzipien einlassen:
— Jedermann soll gleiches Recht auf das umfangreichste System gleicher (politischer) Grundfreiheiten haben, das mit dem gleichen System für alle anderen verträglich ist.
— Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind so zu gestalten, dass (a) vernünftigerweise zu erwarten ist, dass sie zu jedermanns Vorteil dienen, und (b) sie mit Positionen und Ämtern verbunden sind, die jedem offen stehen.
Das erste Prinzip bezieht sich auf den politischen Teil einer Grundordnung und geht dem zweiten, sozioökonomisch orientierten Prinzip vor. Rawls versteht „justice as fairness” als Forderung nach fairer Chancengleichheit. Um bei der Wahl der Ordnungsprinzipien allgemein akzeptable und in diesem Sinne faire Lösungen zu garantieren, muss unterstellt werden, dass die „Grundsätze der Gerechtigkeit” hinter einem Schleier des Nichtwissens („veil of ignorance”) gewählt werden, der alle persönlichen Eigenschaften der Abstimmenden verbirgt. Damit soll eine Gesellschaft möglich werden, in der eine größere Vielzahl miteinander konkurrierender Lehren gleichberechtigt koexistieren kann durch ihre gemeinsame Anerkennung einer Gerechtigkeitskonzeption, deren Voraussetzungen mit jeder von ihnen vereinbar ist.
Das Rawlssche Konzept ist — im Unterschied zum Utilitarismus, dem es um die Förderung des Gesamtnutzens geht — individualistisch („sozialliberal”) orientiert. Rawls intendiert eine Konkretisierung des „suum cuique” und des Kantschen kategorischen Imperativs nach bestimmten Regeln, die eine angemessene Verteilung der vorhandenen Güter unter den Bedingungen der natürlichen Ungleichheit ermöglichen sollen. Rawls betrachtet die Gesellschaft als ein Unternehmen zur Förderung des gegenseitigen Vorteils; sein Gerechtigkeitsbegriff geht von dem Urzustand aus, in dem sich die Menschen unter einem Schleier des Nichtwissens über ihren jeweiligen Status über ihre Rechte und Pflichten geeinigt haben. Das Ziel der Verteilung sei eine soziale Gemeinschaft (die „well-ordered society”), in der jeder „zu seinem Recht” komme.
Die Rawlssche Konzeption führt zu einer philosophischen Rechtfertigung der liberalen Menschenrechte und der elementaren politischen Mitwirkungsrechte, andererseits auch zu einer Rechtfertigung politischer und ökonomischer Ungleichheit, soweit diese niemand benachteiligt (kritische Anmerkung: Wie soll das möglich sein?). Bei der Realisierung dieser Prinzipien spielt die Verfahrensgerechtigkeit eine zentrale Rolle. Insgesamt versucht Rawls, die Ideale der französischen Revolution, „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit”, theoretisch einzulösen. Gegenüber dem Liberalismus Lockescher Prägung liegt mit der Betonung gleicher Rechte und fairer Chancengleichheit der Akzent deutlich stärker auf dem Gleichheitsgrundsatz. Dem entspricht die normative Ausarbeitung des Gedankens der Brüderlichkeit, der auf die Interessen des sozial am schlechtesten Gestellten (benefits ... for the least advantaged members of society) abstellt (zweites Prinzip). Der Erfolg von Rawls beruht auf verschiedenen Umständen: Er entthront den Utilitarismus und führt als alternatives Paradigma Kants Ethik ein; er spricht die Sprache der Entscheidungs- und Spieltheorie, er tritt innerhalb der amerikanischen Staatsdiskussion einer liberalistischen Verengung entgegen und verteidigt den Sozialstaat. Rawls\' Konzept ist von mehreren Seiten angegriffen worden; die libertäre kritisiert die Abkehr von einer Laissez-faire-Gesellschaft (i. S. von Hobbes und Locke), die kommunitarisch bewegte Kritik (von Hegel, Aristoteles und der Scholastik beeinflusst) verlangt eine inhaltsreichere gemeinsame Vorstellung vom Gemeinwohl und kritisiert die bei einer egalitär liberalen Gesellschaftsordnung bestehende Gefahr des Verlustes wertvoller Lebensformen.
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