Europäisches Insolvenzrecht
Teil des internationalen Insolvenzrechts, das wesentlich durch die Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates der Europäischen Union vom 29. 5. 2000 (EuInsVO, ABI. L 160/1 ff.) geregelt wird.
Zweck der Verordnung ist die Vereinheitlichung des Internationalen Insolvenzrechts in der Europäischen Union. Sie gilt in Deutschland seit dem 31. 5. 2002 direkt, allgemein und unmittelbar. Daneben finden Art.102 EGInsO und das autonome deutsche Internationale Insolvenzrecht (§ § 335-358 InsO) Anwendung. Beide Regelungen hat der deutsche Gesetzgeber mit dem Gesetz zur Neuregelung des Internationalen Insolvenzrechts vom 14. 3. 2003 (BGBl. I, 345 ff.) erlassen.
Ziel der Verordnung ist es u. a. zu verhindern, dass es für die Parteien vorteilhafter ist, Vermögensgegenstände oder Rechtsstreitigkeiten von einem Mitgliedstaat der Europäischen Union in einen anderen zu verlagern, um auf diese Weise eine verbesserte Rechtsstellung anzustreben (Forum Shopping, Einl. (4) EuInsVO). Außerdem soll die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens in einem Mitgliedstaat grundsätzlich Wirkung in der gesamten Europäischen Union erhalten (,Prinzip der gemäßigten Universalität\', Einl. (11) und (12) EuInsVO).
Inhalt der Verordnung sind Vorschriften, die die Zuständigkeit für die Eröffnung von Insolvenzverfahren und für Entscheidungen regeln, die unmittelbar aufgrund des Insolvenzverfahrens ergehen und im engen Zusammenhang damit stehen. Darüber hinaus soll die Verordnung Vorschriften hinsichtlich der
Anerkennung solcher Entscheidungen und hinsichtlich des anwendbaren Rechts, die ebenfalls diesem
Grundsatz genügen, enthalten (Einl. (6) und (8)
EuInsVO).
Persönlicher Anwendungsbereich: Von der Verordnung erfasst werden alle Insolvenzverfahren, deren Schuldner natürliche oder juristische Personen sind. Dabei kommt es nicht darauf an, ob der Schuldner als Kaufmann oder Privatperson handelt. Nicht erfasst werden von der EuInsVO allerdings Wertpapierunternehmen, Kreditinstitute und Versicherungsunternehmen (Einl. (9) EuInsVO). Für die letztgenannten beiden Unternehmensgruppen gibt es Sondervorschriften: Richtlinie 2001/24/EG vom 4.4. 2001 über die Sanierung und Liquidation von Kreditinstituten (ABl. L 125/15) und §§ 46 d ff. KWG sowie die Richtlinie 2001/17/EG vom 19.4. 2001 über die Sanierung und Liquidation von Versicherungsunternehmen (ABI. L 110/28).
Zuständig für die Eröffnung des Hauptinsolvenzverfahrens ist das Gericht des Mitgliedstaats, in dessen Gebiet der Schuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen hat. Bei Gesellschaften und juristischen Personen wird bis zum Beweis des Gegenteils vermutet, dass der Mittelpunkt ihrer hauptsächlichen Interessen der Ort des satzungsmäßigen Sitzes ist (Art. 3 Abs. 1 EuInsVO).
Als anwendbares Recht gilt für das Insolvenzverfahren und seine Wirkungen das Insolvenzrecht des Mitgliedstaats, in dem das Verfahren eröffnet wird, soweit die Verordnung nichts anderes bestimmt (,Staat der Verfahrenseröffnung`). Das Recht des Mitgliedstaates regelt, unter welchen Voraussetzungen das Insolvenzverfahren eröffnet wird und wie es durchzuführen und zu beenden ist (Art. 4 EuInsVO).
Zu beachten ist, dass das dingliche Recht eines Gläubigers oder eines Dritten an Gegenständen, die sich zum Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats befinden, von der Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht berührt wird (z.B. Sicherheiten für zur Absonderung berechtigte Gläubiger, Art. 5 EuInsVO).
Besondere Bestimmungen enthält die Verordnung über die Aufrechnung, den Eigentumsvorbehalt, Verträge über unbewegliche Gegenstände, Finanzmärkte, Arbeitsverhältnisse, eintragungspflichtige Rechte (z. B.: Eigentum an Grundstücken, Flugzeugen etc.), Gemeinschaftspatente und ‚Unbekannte\' Gemeinschaftsmarken, benachteiligende Handlungen (-) Insolvenzanfechtung) und über den gutgläubigen Erwerb sowie über die Wirkungen des Insolvenzverfahrens auf anhängige Rechtsstreitigkeiten (Art. 6-15 EuInsVO).
Neben der Durchführung eines weltweit gültigen Hauptinsolvenzverfahrens kommt auch die Eröffnung weiterer territorial begrenzter Nebenverfahren in anderen Mitgliedstaaten in Betracht, wenn der Schuldner eine Niederlassung im Gebiet eines anderen Mitgliedstaates hat. Die Wirkungen dieser Verfahren sind
auf das im Gebiet des Mitgliedstaats belegene Vermögen beschränkt . Bei diesen Verfahren handelt es sich entweder um Sekundärinsolvenzverfahren oder
um Partikularinsolvenzverfahren (Art. 3 EuInsVO, s. auch § § 354 und 356 InsO). Sie durchbrechen die universale Wirkung des Hauptinsolvenzverfahrens.
Die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens durch ein nach Art. 3 EuInsVO zuständiges Gericht eines Mitgliedstaats wird in allen übrigen Mitgliedstaaten anerkannt, sobald die Entscheidung im Staat der Verfahrenseröffnung wirksam ist (Grundsatz der Anerkennung, Art.16 EuInsVO). Die Eröffnung entfaltet in jedem anderen Mitgliedstaat die Wirkungen, die das Recht des Staates der Verfahrenseröffnung dem Verfahren beilegt, sofern die Verordnung nichts anderes bestimmt und solange kein Sekundär- oder Partikularinsolvenzverfahren eröffnet ist (,Prinzip der gemäßigten Universalität`, Wirkung der Anerkennung, Art. 17 EuInsVO).
Der Insolvenzverwalter, der durch das nach Art. 3 EuInsVO zuständige Gericht bestellt worden ist, darf im Gebiet eines anderen Mitgliedstaates alle Befugnisse ausüben, die ihm nach dem Recht des Staates der Verfahrenseröffnung zustehen. Ist allerdings ein Sekundär- oder Partikularinsolvenzverfahren eröffnet worden, so sind seine Befugnisse eingeschränkt. Hier übt der örtlich zuständige Insolvenzverwalter die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis über das in diesem Staat befindliche Vermögen des Schuldners aus (Art.18 EuInsVO). Beide Verwalter unterliegen jedoch einer Kooperations- und Unterrichtungspflicht (Art.31 EuInsVO).
Die Gläubiger können ihre Forderungen sowohl im Haupt- als auch in jedem Sekundärinsolvenzverfahren anmelden (Art. 32 EuInsVO)
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