Unantastbarkeitsgarantien
bilden eine absolute Schranke für
Verfassungsänderungen. Es gibt im Grundgesetz einen Bestand fundamentaler Normen, deren Änderung schlechthin unzulässig ist. In bewusstem Gegensatz zur Weimarer Reichsverfassung, die keine unabänderlichen Grundprinzipien kannte, enthält das Bonner Verfassungswerk eine Art von Ewigkeitsklausel für seine konstituierten Grundentscheidungen (Art. 79 III).
Nach dieser Unantastbarkeitsgarantie sind Grundgesetzänderungen absolut verboten, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder oder die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 GG niedergelegten Grundsätze berührt werden. Demgemäss sind einer Verfassungsänderung a priori entzogen das Bundesstaatsprinzip, die Garantie der Menschenwürde (Art. 1 I), das Bekenntnis des deutschen Volkes zu Menschenrechten (Art. 1 II) und die Bindung der gesamten Staatsgewalt an die Grundrechte (Art. 1 III). Unantastbar sind ferner die grundgesetzlichen Prinzipien der Republik (Art. 20 I) des Rechtsstaates in seinen Ausprägungen der Gewaltenteilung, des Vorrangs der Verfassung und des Gesetzmässigkeitsgrundsatzes (Art. 20 II und III), der freiheitlichen Demokratie auf der Grundlage der Volkssouveränität (Art. 20 II) und des Sozialstaates (Art. 20 I).
In Abkehr vom überkommenen parlamentarischen Demokratiebegriff hat das Grundgesetz als eine betont werthafte Verfassung bestimmte normative Fundamente für unabänderlich erklärt. Indessen erfasst diese Ewigkeitsklausel nur die "Grundsätze", die in den Artikeln 1 und 20 GG niedergelegt sind. Daher ist namentlich nicht der ganze ursprüngliche Grundrechtskatalog des GG mit allen Einzelbestimmungen unantastbar. Er wird vielmehr nur in seinen durch die Prinzipien der Menschenwürde und Menschenrechte geprägten Wertentscheidungen als unverbrüchlich garantiert. Das strikte grundgesetzliche Verbot, die für unantastbar erklärten "Grundsätze" zu "berühren", schützt diese zugleich vor einer allmählichen Aushöhlung und vor ihrer Aufhebung durch einmaligen gesetzgeberischen Akt.
Als Schranke für den verfassungsändernden Gesetzgeber soll die Ewigkeitsklausel verhindern, dass die Kernsubstanz insbesondere der rechtsstaatlichen Grundordnung auf formal-legalistischem Wege beseitigt wird. Freilich bleibt die Frage, ob man durch eine normative Unantastbarkeitserklärung fundamentale Entscheidungen einer Verfassung für ewige Zeiten stabilisieren kann. Dem elementaren Ausbruch einer echten Revolution vermag keine Staatsverfassung standzuhalten, wie die historische Erfahrung belegt. Doch gegen Versuche eines Verfassungsumsturzes ohne wirkliche revolutionäre Legitimation, besonders gegen schleichende Umwälzung mit formal-legalen Mitteln, kann eine intakt gebliebene Unantastbarkeitsklausel einen nicht zu unterschätzenden Schutz bieten.
Nach allem erscheint die vom GG konstituierte Unantastbarkeit bestimmter Verfassungsgrundsätze - sie entsprechen weitgehend dem Rechtsgehalt der freiheitlichen demokratischen Grundordnung - als sinnvoll und sachgerecht. Dies entspricht auch einem der vornehmsten Verfassungszwecke, den Leitprinzipien der Grundordnung des Staates die grösstmögliche Kontinuität und Stabilität zu sichern. Ohne den normativen Schutz der fundamentalen Verfassungsentscheidungen käme es zu einem verfassungsrechtlichen Nihilismus nach Massgabe der jeweiligen Majorität in den gesetzgebenden Körperschaften. Alles wäre dann änderbar und abschaffbar, nichts stünde mehr fest. Wie das Beispiel der insoweit wehrlosen Weimarer Reichsverfassung zeigt, wird ohne die Schranke bestimmter Unantastbarkeiten die legale Verfassungsänderung zum Hebel der Verfassungszertrümmerung.
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