Verfassungsauslegung

ist die methodische Ermittlung des normativen Inhalts einer Verfassungsvorschrift. Dieser Interpretationsvorgang darf sich um der Rechtssicherheit willen nicht nach beliebigen Weisen des Rechtsgefühls und des subjektiven Meinens vollziehen. Vielmehr gelten für diese oft schwierige Aufgabe zunächst bestimmte Grundsätze, die sich in der allgemeinen Jurisprudenz als fachliche Kunstregeln seit langem bewährt haben. Danach lassen sich bei der Sinnermittlung eines Rechtssatzes folgende Auslegungsschritte unterscheiden: die grammatische, die logische, die systematische, die komparative, die genetische und die teleologische Interpretation.
Die grammatische Auslegung, mit der jede Textdeutung beginnt, richtet sich auf die Ermittlung des Wortsinns, ausgehend vom allgemeinen Sprachgebrauch. Beim nächsten Schritt, der logischen Auslegung, ist der spezielle Sprachgebrauch des Gesetzgebers und der begriffliche Inhalt rechtlicher Fachausdrücke zu berücksichtigen. Wenn allgemeiner und juristischer Wortsinn divergieren, muss die ,richtige" Bedeutung des auszulegenden Textes anhand weiterer Kriterien ermittelt werden. Die hier notwendige systematische Interpretation würdigt den Text im Zusammenhang der aufeinander bezogenen Teile eines Rechtssatzes oder Gesetzes vor dem Hintergrund der Gesamtrechtsordnung. Die komparative Auslegung hinwiederum weist über die Grenzen des nationalen Rechts hinaus. Sie nutzt rechtsvergleichend ausländische Regelungen des gleichen Problems als Erkenntnismittel des deutschen Rechts. Freilich sind im Ver- fassungsrecht, mit Rücksicht auf die verfassungsgebende Gewalt des nationalen Souveräns, komparative Schlussfolgerungen nur mit grosser Vorsicht zulässig. Eine Form historischer Auslegung schliesslich ist die genetische, die sich auf die Entstehungsgeschichte eines Rechtssatzes bezieht. Sie fragt nach den seinerzeitigen Vorstellungen der Gesetzesverfasser in Regierung und Parlament, soweit sie schriftlichen Quellen zu entnehmen sind.
Von den subjektiven Intentionen des historischen Gesetzgebers zu unterscheiden ist der objektive Normzweck, der sich bei unverändertem Normtext im Laufe der Zeit durchaus wandeln kann. Diesen massgeblichen Sinn und Zweck (Telos) eines Rechtssatzes zu erkennen, ist das Ziel der teleologischen Interpretation. Ohne an die ursprünglichen gesetzgeberischen Motive gebunden zu sein, fragt der Interpret im Rahmen des möglichen Wortsinns nach dem Bedeutungsgehalt (Ratio legis), den die auszulegende Rechtsnorm vernünftigerweise in der Gegenwart hat. Wesentliche Kriterien dieser teleologischen, auf Erkenntnis des objektiven Normzwecks zielenden Auslegung sind insbesondere die Grundgedanken, die Natur der Sache und die dem Rechtssatz innewohnenden Wertprinzipien.
Alle vorgenannten, letztlich zur teleologischen Auslegung hinführenden Deutungsmethoden der allgemeinen Jurisprudenz gelten grundsätzlich auch für die Interpretation einer Verfassungsnorm. Indessen erfordert der Höchstrang des Verfassungsrechts - samt den .politischen" Implikationen hier zu treffender Entscheidungen - ein Optimum an Auslegungskunst und gesamtstaatlichem Augenmass. Diese Aufgabe ist um so schwerer, als die Verfassung oft Begriffe verwendet, die besonders lapidar, abstrakt, mehrdeutig und konkretisierungsbedürftig sind.
Für die verfassungsrechtliche Praxis kommt den Auslegungsmaximen des Bundesverfassungsgerichts eine ausschlaggebende Bedeutung zu. Die nicht konsequent durchgehaltene Argumentation des Gerichts folgt im wesentlichen der Methode, wonach Ziel der Interpretation der im Gesetz objektivierte Wille des Gesetzgebers ist, zu dessen Ermittlung die oben skizzierten, sich gegenseitig ergänzenden Auslegungswege angebracht sind. Diese allgemeinen Grundsätze der Gesetzesinterpretation hat das BVerfG durch spezifisch verfassungsrechtliche Ansätze fortentwickelt, insbesondere durch Prinzipien der Einheit der Verfassung, der verfassungskonformen Auslegung und der konkreten Konkordanz von Verfassungsnormen.
Die letztere Auslegungsrichtlinie gilt - wie schon bei Grundrechtskollisionen - überhaupt für Konflikte zwischen Rechtswerten mit Verfassungsrang. In solchen Fällen ist herauszufinden, welche Verfassungsnorm jeweils das höhere Gewicht zu beanspruchen hat. Dabei darf jedoch die schwächere Norm nur so weit zurückgedrängt werden, wie dies zur Fallentscheidung unumgänglich ist, ohne ihren Wesensgehalt anzutasten. - Ein Interpretationsgrundsatz, der besonders für das Staat-Bürger-Verhältnis gilt, ist die Ausrichtung an der grösstmöglichen Grundrechtseffektivität. Danach verdient im Zweifel diejenige Auslegung den Vorzug, welche die juristische Wirkungskraft der betreffenden Grundrechtsnorm am stärksten zur Geltung bringt.

ist die Auslegung der Verfassung. Lit.: Starck, C., Praxis der Verfassungsauslegung, 1994; Park, Z., Die verfassungskonforme Auslegung als richterliche Verfassungskonkretisierung, 2000




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