Gerechtigkeit
Höchstes Ziel des Rechts und der Rechtsprechung (Richter schwören in ihrem Diensteid, «nur der Gerechtigkeit zu dienen»). Leider besteht darüber, was allgemein und in jedem Einzelfall Gerechtigkeit ist, niemals Einigkeit, da das vom Standpunkt des einzelnen, vor allem von seinen Interessen und seiner Weltanschauung, abhängt. Alle Versuche, Grundsätze zu entwickeln, nach denen immer und überall festgestellt werden kann, was Gerechtigkeit ist (Naturrecht), sind gescheitert. Alle Beteiligten müssen sich daher mit dem zufriedengeben, was erreichbar ist. Dazu gehört, daß der Gesetzgeber und die Gerichte versuchen, alle Bürger möglichst gleich zu behandeln (Gleichheitsgrundsatz). Dazu gehört, daß Härten, die unvermeidlich bei der Anwendung der Gesetze entstehen, gemildert werden (die Gerichte sprechen in solchen Fällen nicht von Gerechtigkeit, sondern von «Billigkeit»). Dazu gehört ferner, daß alle Bürger ihre Konflikte nicht mit Gewalt (dem «Recht des Stärkeren»), sondern friedlich in einem geregelten (justizförmigen) Verfahren vor den Gerichten austragen (Erhaltung des Rechtsfriedens). Dazu gehört schließlich, daß die Entscheidungen der Gerichte in gleichgelagerten Fällen möglichst auch gleich und damit vorhersehbar sind, so daß die Bürger sich darauf einstellen können (Rechtssicherheit
objektiv das Ideal eines staatlichen oder gesellschaftlichen Verhaltens, das jedem sein Recht gewährleistet; subjektiv das einem einzelnen werdende Recht. G. anzustreben, ist Ziel eines freiheitlichen Rechtsstaates. "Staaten ohne Gerechtigkeit, was sind sie anderes als grosse Räuberbanden?" (Augustinus).
ist ein ideales Ziel der rechtsstaatlich konstituierten gesetzgebenden, rechtsprechenden und vollziehenden Gewalt. Da die Idee der Gerechtigkeit nicht ohne weiteres realisierbar und ihr Inhalt überdies für unterschiedlichste philosophische Deutungen offen ist, kann aus praktischen Gründen der Gerechtigkeitsgehalt hoheitlichen Staatshandelns kaum anders als an grundlegenden Verfassungsnormen gemessen werden. Das GG hat dafür insbesondere mit den Grundrechtsgarantien und den materialen Rechtsstaatsprinzipien bindende Richtlinien statuiert. Dabei können die gleichrangigen Gebote der Rechtsrichtigkeit und der Rechtssicherheit miteinander in Konflikt geraten. Gibt der Gesetzgeber in solchen Fällen einem der beiden Prinzipien in willkürfreier Weise den Vorzug, so ist seine Entscheidung verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.
. Für ein positivistisch nicht verkürztes Rechtsverständnis bildet die G. das oberste, unabhängig von staatlicher Setzung geltende Ziel des Rechts. Sie ist ein soziales Ordnungs- u. Verteilungsprinzip, das nach der klassischen, schon in der Antike geläufigen Formel darauf abzielt, jedem das Seine zu gewähren (suum cuique tribuere). Seit Aristoteles unterscheidet man zwischen der ausgleichenden oder Tausch-G. (iustitia commutativa), die im Verhältnis der einzelnen zueinander gilt, u. der austeilenden G. (iustitia distributiva), die die Rechte u. Pflichten der einzelnen gegenüber der Gemeinschaft betrifft. Zur ausgleichenden G. gehört, dass man die Sachwerte bezahlt, die man empfangen, die Verträge einhält, die man geschlossen hat, dass man Ersatz leistet für Schäden, die man angerichtet hat. Zur austeilenden G. gehört, dass die Gemeinschaft jedem das ihm Zustehende gibt, etwa durch Fürsorge bei Bedürftigkeit, auch in Form angemessener Strafe, bei schweren Rechtsverstössen. Umgekehrt verlangt die austeilende G. von jedermann, dass er der staatlichen Gemeinschaft das Ihre gibt, indem er seine Steuern zahlt, seine staatsbürgerlichen Pflichten erfüllt u. den Staat tätig mitgestaltet. Die Schwierigkeit liegt jedoch darin, diese sehr allgemeinen Postúlate mit konkreten Inhalten zu füllen. Hier stellt sich eine Aufgabe, die nicht ein für allemal, sondern jeweils nur für eine bestimmte geschichtliche Situation gelöst werden kann. Die Frage nach der G. drängt sich immer dann mit besonderer Schärfe und Aktualität auf, wenn das Recht dem verbreiteten Rechtsempfinden der Menschen widerspricht, wenn es als "ungerecht" erlitten wird. Daran zeigt sich, dass die G. vor allem als korrigierender Massstab auf Rechtsetzung u. Rechtsanwendung einwirken kann.
ist das zeitlos gültige Maß richtigen Verhaltens. Es soll im jeweils geltenden positiven Recht verwirklicht werden. Dies gelingt aber stets nur verhältnismäßig und damit unvollkommen. Nach dem antik-griechischen Philosophen Aristoteles wird zwischen aus gleichender G. ([lat.] iustitia [F.] commutativa) und austeilender G. ([lat.] iustitia [F.] distributiva) unterschieden. Die ausgleichende G. gilt vor allem im Verhältnis der Einzelnen zueinander und fordert mengenmäßige Gleichheit (z.B. Ersatz des vollen Schadens). Die austeilende G. gilt vor allem für das Verhältnis des Einzelnen zum Ganzen und fordert nur eine den unterschiedlichen Verhältnissen angepasste Gleichheit (Zuteilung an jeden nach seinen Fähigkeiten oder Leistungen). Lit.: Zippelius, R., Recht und Gerechtigkeit, 2. A. 1996; Dreier, H., Was ist Gerechtigkeit?, JuS 1996, 580; Oechsler, /., Gerechtigkeit im modernen Austauschvertrag, 1997; Höffe, O., Gerechtigkeit, 2. A. 2004
idealer Zustand einer Gesellschaftsordnung, die vollkommene Verwirklichung des Rechts.
Ziel aller Rechtssetzung und Rechtsanwendung ist Gerechtigkeit. Die Gerechtigkeit ist der Wertmaßstab des (positiven) Rechts (Aristoteles). Gerechtigkeit ist der faire Ausgleich der unterschiedlichen Interessen und Bedürfnisse.
Konkretisiert wird die Gerechtigkeit in der Verfassung und in der gesamten Rechtsordnung. Luhmann definiert Gerechtigkeit (formal) als „adäquate
Komplexität des Rechtssystems” oder als „Einheit des gesetzten Rechts”. Gerechtigkeit bedeutet die Übereinstimmung mit der Summe der rechtlichen Anforderungen. Gerechtigkeit ist die Zusammenfassung von Freiheit, Gleichheit, Frieden, Tugend, Würde, Vernunft, Menschenrechten und Demokratie. Gerechtigkeit sie muss immer wieder neu auf Wirklichkeiten und Situationen bezogen und an ihnen „geortet” werden. Gerechtigkeit wird in der Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben verwirklicht (Albert Schweitzer).
Gerechtigkeit hat eine anthropologische, eine ethische und eine politische Dimension. Die anthropologische Dimension verweist auf die spezifischen Daseins- und Erkenntnisbedingungen des Menschen; nach der conditio humana ist menschliches Denken
der Endlichkeit und der Vorläufigkeit unterworfen;
absolute Gerechtigkeit ist nicht zu erreichen, allenfalls im Laufe der Geschichte eine „bessere” Gerechtigkeit.
Die ethische Dimension der Gerechtigkeit beruht
auf der Verbindung von Recht und Ethik; Gerechtigkeit steht im „Kondominium von Moralphilosophie
und Rechtsphilosophie”. Den Gegensatz bildet insoweit die Ungerechtigkeit, aber auch die Selbstgerechtigkeit. Die Gerechtigkeit steht der Sache nach in Beziehung zu dem Telos des politischen Gemeinwesens,
Gerechtigkeit ist etwas Politisches (Aristoteles). Gerechtigkeit wird daher nicht hergestellt in der Sphäre
theoretischer Reflexion, sie ist kein realitätsfernes Abstraktum, sondern über Fragen der Gerechtigkeit muss abgestimmt werden, müssen auch Kompromisse geschlossen werden.
Aristoteles unterscheidet zwei Formen der Gerechtigkeit, die ausgleichende Vertrags- oder Austauschgerechtigkeit, die nach arithmetischer Proportionalität bemessen wird, und die austeilende Gerechtigkeit, die weitere Belange, z. B. die jeweiligen Bedürfnisse, in die Belange einbezieht. Diese beiden Positionen werden heute als libertäre und sozialstaatliche Gerechtigkeitsposition bezeichnet. Beide sind den Prinzipien des demokratischen Rechtsstaats verpflichtet (Trennung von Staat und Gesellschaft; Privateigentum und Privatautonomie als Organisationsprinzipien der Gesellschaft; Demokratie und Gewaltenteilung als Organisationsprinzipien des Staates). Der Differenzpunkt liege in der Sozialstaatlichkeit, d. h. der Ermächtigung und der Verpflichtung des Staates, für soziale Gerechtigkeit, also für Chancengleichheit und soziale Sicherheit zu sorgen und korrigierend in das Erziehungs-, Ausbildungs- und Wirtschaftssystem einzugreifen. Indes besteht die Gerechtigkeit nicht nur in der GleichheitsGerechtigkeit (iustitia commutativa und iustitia distributiva), sondern enthält eine Vielzahl weiterer Aspekte, die iustitia legalis, die Gemeinwohl-Gerechtigkeit, die die soziale Gerechtigkeit umfasst, die Sach-Gerechtigkeit, die Strafgerechtigkeit, das Prinzip der Verhältnismäßigkeit, aber auch Verfahrensgerechtigkeit und politische Gerechtigkeit.
Kelsen unterscheidet zwischen rationalen und metaphysischen Gerechtigkeitsnormen. Gerechtigkeitsnormen des rationalen Typus seien z.B. suum cuique, „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg\' auch keinem andern zu”, der kategorische Imperativ, die Einhaltung der „goldnen Mitte”, das Prinzip der Vergeltung„,Jedem nach seiner Leistung”, die individuelle Freiheit, das Prinzip der Gleichheit. Gemeinsames Element dieser Gerechtigkeitsnormen sei, dass sie in sehr verschiedener Weise unter bestimmten Bedingungen ein bestimmtes Verhalten vorschrieben. Ein allgemeiner Begriff der Gerechtigkeit hingegen könne nur völlig leer sein, zumal dann, wenn dieser Begriff auch die Gerechtigkeitsnormen des metaphysischen Typus umfassen solle. Der klassische Vertreter dieses Typus sei Platon. Zur Lösung des Gerechtigkeitsproblems habe er seine Ideenlehre entwickelt; die Idee des absolut Guten liege jenseits aller rationalen Erkenntnis. Es könne keine begriffliche Erkenntnis, sondern nur eine Art Schau des absolut Guten geben; diese Schau vollziehe sich im Wege eines mystischen Erlebnisses, das nur wenigen und nur durch göttliche Gnade zuteil werde. Daher — so der Schluss Kelsens könne es keine Antwort auf die Frage nach dem Wesen der Gerechtigkeit geben. Gerechtigkeit sei ein Geheimnis, das Gott — wenn überhaupt, so nur — einigen wenigen Auserwählten anvertraut und das deren Geheimnis bleiben müsse, weil sie es anderen nicht vermitteln könnten. Daher müsse die Quelle der Gerechtigkeit, damit aber auch ihre Verwirklichung von dem Diesseits in das Jenseits verlegt, müsse auf Erden mit einer bloß relativen Gerechtigkeit vorlieb genommen werden, die in jeder positiven Rechtsordnung und dem von ihr mehr oder weniger gesicherten Friedens-und Sicherheitszustand erblickt werden könne.
Röhl, Klaus/Röhl, Hans Christian: Allgemeine Rechtslehre. Köln (Heymanns-Verlag) 32008. Kriele, Martin: Kriterien der Gerechtigkeit — Zum Problem des rechtsphilosophischen und politischen Relativismus. Berlin (Duncker & Humbolt-Verlag) 1963. Kelsen, Hans: Reine Rechtslehre — Mit einem Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit. Wien (Deuticke-Verlag) 21960.
Dreier, Ralf: Was ist Gerechtigkeit? JuS 1996,580-584, München (Beck Verlag). Hollerbach, A.: Reflexionen über Gerechtigkeit, Festschrift für Kerber. Freiburg (Herder-Verlag) 1996. BeckMannagetta, Margarethe: Festschrift für Theo Mayer-Maly zum 65. Geb. — Der Gerechtigkeitsanspruch des Rechts. Wien (Springer-Verlag) 1996.
ist objektiv als Ideal die vollkommene Ordnung im Rahmen des Rechts. Man unterscheidet schon seit Aristoteles die ausgleichende (kommutative = austauschende) G. als Prinzip gerechter Regelung der Verhältnisse der Einzelnen untereinander und die austeilende (distributive) G. als Grundlage der Regelung von Rechten und Pflichten des einzelnen gegenüber der Gemeinschaft (suum cuique distribuere = jedem das Seine zuteilen). Sie ist Richtschnur für jedes staatliche Handeln in Gesetzgebung und Verwaltung; aus ihr resultiert insbes. der Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz. Die subjektive G. ist das dem einzelnen zuteil werdende Recht, also die Verwirklichung der objektiven G.
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