Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
auch Über maß verbot; aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleiteter allgemeiner Grundsatz des öffentlichen Rechts, dass die Verwaltung bei Eingriffen in Rechte des einzelnen unter mehreren (tatsächlich und rechtlich) möglichen Maßnahmen nur diejenige ergreifen darf, die den Betroffenen und die Allgemeinheit am wenigsten beeinträchtigt; daß diese Maßnahme nicht weiter gehen darf, als zur Erreichung des angestrebten Zweckes erforderlich ist (Grundsatz des mildesten Mittels, Grundsatz der Erforderlichkeit) und daß ein zu erwartender Schaden nicht in grobem Mißverhältnis zu dem erstrebten Erfolg stehen darf.
, Arbeitsrecht: Grundsatz, der zum einen besagt, dass Kündigungen nur als letztes Mittel ausgesprochen werden dürfen, wenn keine weiteren müderen Mittel mehr möglich sind.
Zum anderen ist er bezüglich der Frage, ob ein Arbeitskampf stattfindet, als auch bei der Auswahl des Kampfmittels zu beachten. Der Kampf darf nur als letztes Mittel und dann dürfen auch nur die jeweils mildesten wirksamen Mittel eingesetzt werden.
1.
Für alle Eingriffe der öffentlichen Gewalt in Rechte des einzelnen gilt der V. Gesetzgebende Gewalt, öffentliche Verwaltung und Justiz sind daran gebunden. Alle Gesetze, gerichtlichen Entscheidungen und Verwaltungsakte müssen dem V. entsprechen.
2.
V. i. w. S. bedeutet, dass alle o. g. Maßnahmen geeignet, erforderlich (notwendig) und verhältnismäßig (V. i. e. S.) sein müssen. Eine Maßnahme muss zunächst geeignet sein, das angestrebte Ziel zu erreichen (Grundsatz der Geeignetheit). Ferner hat die öffentliche Gewalt unter mehreren geeigneten Maßnahmen diejenige zu treffen, die den einzelnen und die Allgemeinheit am wenigsten beeinträchtigt (Grundsatz der Erforderlichkeit oder Notwendigkeit). Ferner muss eine Maßnahme unterbleiben, wenn die durch die Maßnahme zu erwartenden Nachteile für den Betroffenen außer Verhältnis zu dem beabsichtigten Erfolg stehen (Grundsatz der Verhältnismäßigkeit i. e. S. oder Übermaßverbot).
3.
Der V. folgt aus dem Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung. Der V. ist in vielen Einzelgesetzen ausdrücklich geregelt (z. B. § 4 des G über den unmittelbaren Zwang bei Ausübung der öffentlichen Gewalt durch Vollzugsbeamte des Bundes - UZwG - v. 10. 3. 1961, BGBl. I 165, m. Änd.; zum Polizeirecht s. a. Ziffer 5). Als allgemeiner verfassungsrechtlicher Rechtsgrundsatz gilt der V. aber auch ohne ausdrückliche Regelung. Eine Verstoß gegen den V. führt zur Rechtswidrigkeit der betreffenden Maßnahme, bei Gesetzen zur Nichtigkeit.
4.
Im Strafprozess wirkt sich der V. dahin aus, dass verfahrensrechtlich zulässige Eingriffe in Freiheit, Eigentum und andere Rechtsgüter des Beschuldigten oder Dritter (insbesondere Grundrechte) im rechten Verhältnis zur Schwere des Tatvorwurfs und zum Grad des bestehenden Verdachts stehen. Der Grundsatz ist vor allem für die Untersuchungshaft gesetzlich normiert. Untersuchungshaft darf nicht angeordnet und muss aufgehoben werden, wenn sie zur Bedeutung der Sache und zu der erwartenden Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung außer Verhältnis steht (§§ 112 I 2, 120 I StPO, Art. 5 III 2 MRK). S. a. § 62 StGB über die Verhältnismäßigkeit von Maßregeln im Hinblick auf die Bedeutung der Tat und die Gefährlichkeit des Täters; ferner § 74 b StGB und § 24 OWiG für die Verhältnismäßigkeit der (fakultativen) Einziehung im Strafverfahren zur Bedeutung der Straftat sowie § 111 m StPO für die Verhältnismäßigkeit der Beschlagnahme von Druckwerken, Schriften und anderen Darstellungen.
5.
Besondere Bedeutung hat der V. im Polizeirecht (polizeiliche Maßnahmen, polizeiliche Zwangsmittel, Waffengebrauch).
6.
Nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH ist der V. ein Bestandteil des Unionsrechts (s. a. europäisches Recht). Art. 5 I und III EUV (EU-Vertrag) bekennt sich jetzt ausdrücklich zu den Grundsätzen der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit.
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