Korrekturvorschriften der Abgabenordnung
Die Abgabenordnung verfügt über ein gegenüber dem allgemeinen Verwaltungsrecht eigenständiges System für die Änderung von Verwaltungsakten. Dabei wird hinsichtlich der Korrekturmöglichkeiten danach unterschieden, ob es sich um einen Steuerbescheid oder diesem Verwaltungsaktstyp gleichgestellten einerseits oder um einen sonstigen Steuerverwaltungsakt andererseits handelt. Folgende Bescheide sind per Gesetz den Steuerbescheiden gleichgestellt und werden im Folgenden zusammen mit dem Steuerbescheid unter dieser Bezeichnung zusammengefasst:
— Feststellungsbescheide, § 181 Abs. 1 AO,
— Steuermessbescheide, § 184 Abs. 1 AO,
— Zerlegungsbescheide, §§ 185,184 Abs. 1 AO,
— Zuteilungsbescheide, § 190, 185, 184 Abs. 1 AO,
— Zinsbescheide, § 239 Abs. 1 AO,
— Kindergeldbescheide, § 70 EStG,
— Festsetzung der Eigenheimzulage, § 15 EigZu1G. Änderung von Steuerbescheiden:
Die Änderung von Steuerbescheiden ist nur möglich, wenn eine der nachfolgenden Fallkonstellationen vorliegt:
1) Ein i. S. d. § 125 AO nichtiger Steuerbescheid kann ungeachtet dessen, dass er ohnehin keine Rechtswirkung zu entfalten in der Lage ist, formell aufgehoben werden.
2) Bei einem mit einem Nachprüfungsvorbehalt nach §164 AO oder Vorläufigkeitsvermerk nach §165 AO versehenen Steuerbescheid ergibt sich die Änderung aus den genannten Vorschriften.
3) Die Vorschrift des §129 AO lässt die Änderung eines Steuerbescheides zu, wenn der Finanzbehörde bei dessen Erlass eine offenbare Unrichtigkeit unterlaufen ist. Eine offenbare Unrichtigkeit im Sinne dieser Norm liegt vor, wenn ein ebenso mechanischer Fehler vorliegt, wie das bei einem in der Vorschrift ausdrücklich genannten Schreib- oder Rechenfehler der Fall ist. Bei einem Irrtum über Tatsachen kann eine offenbare Unrichtigkeit vorliegen, falls der Grund in einer Unachtsamkeit zu finden ist und die Tatsache an sich klar auf der Hand liegt. Problematisch ist der Fall, wenn nach der Art des Fehlers nicht klar erkennbar ist, ob er Folge einer rechtlichen Fehleinschätzung oder einer schlichten Unachtsamkeit bei der Bearbeitung ist. Bei dieser Entscheidung ist darauf abzustellen, ob mit Fug und Recht die konkrete Möglichkeit eines Rechtsirrtums angenommen werden kann oder ob es sich lediglich um eine theoretische Möglichkeit eines Rechtsirrtums handelt. Nach Rspr. und h. L. muss die Unrichtigkeit nicht als solche in dem Bescheid erkennbar sein. Es reicht vielmehr aus, wenn ein unvoreingenommener Dritter bei Offenlegung des Sachverhaltes den Fehler eindeutig im Sinne einer offenbaren Unrichtigkeit einstufen würde.
4) § 172 Abs. 1 AO sieht folgende Änderungsmöglichkeiten vor:
a) Es handelt sich um Verbrauchsteuern, Nr.1;
b) der Steuerpflichtige hat zugestimmt oder es wird einem von ihm gestellten Antrag entsprochen und die Zustimmung oder der Antrag ist innerhalb der Einspruchsfrist erfolgt, Nr. 2 a);
c) der Steuerbescheid ist von einer sachlich unzuständigen Behörde erlassen worden, Nr. 2 b);
d) der Steuerbescheid ist durch unlautere Mittel erwirkt worden;
e) eine gesetzliche Vorschrift, wie z.B. § 189 AO für Zerlegungsbescheide, § 10d EStG für den Verlustvortrag bei Einkommensteuerbescheiden, lässt die Änderung zu.
5) § 173 AO nennt folgende Änderungsmöglichkeiten beim Bekanntwerden neuer Tatsachen:
a) Es werden nachträglich Tatsachen oder Beweismittel bekannt, die zu einer höheren Steuer führen, § 173 Abs. 1 Nr.1 AO. Im Gegensatz zur Schlussfolgerung stellt eine Tatsache etwas dar, was Tatbestandsmerkmal einer gesetzlichen Bestimmung sein kann, also einen Vorgang, einen Zustand oder eine Eigenschaft materieller oder immaterieller Art. Nachträglich wird eine Tatsache dann bekannt, wenn sie bei Erlass des ursprünglichen Steuerbescheides bereits existierte, aber zu diesem Zeitpunkt keinem derjenigen Amtsträger bekannt war, deren Kenntnis der Behörde im Rahmen des § 173 AO zugerechnet
wird. Ist ein Steuerbescheid aufgrund einer Außenprüfung ergangen, so kann eine auf § 173 Abs. 1 Nr.1 AO gestützte Anderung nur bei Vorliegen einer vorsätzlichen oder leichtfertigen Steuerverkürzung vorgenommen werden.
Eine wichtige Einschränkung dieser den Bürger belastenden Änderungsmöglichkeit kann sich nach Treu und Glauben ergeben, wenn der Steuerpflichtige seine Mitwirkungspflicht, den Sachverhalt vollständig aufzuklären, erfüllt hat und die Tatsache deshalb erst später bekannt wurde, weil die Finanzbehörde eine sich aus § 88 AO ergebende Ermittlungspflicht verletzt hat. Das trifft zu, wenn die Behörde einer sich aufgrund der vorliegenden Unterlagen zwangsläufig aufdrängenden Frage nicht nachgegangen ist, obschon etwa die Angaben des Steuerpflichtigen nicht mit den von ihm eingereichten Bescheinigungen übereinstimmten. Aus dem Gedanken des Vertrauensschutzes (s Vertrauensschutztatbestand), also ebenfalls aus Treu und Glauben heraus, leitet sich nach den Regeln des § 176 AO die zweite Einschränkung der Änderungsbefugnis ab. Die dritte mögliche Einschränkung der Änderungsbefugnis kann sich als Ergebnis einer fiktiven Erheblichkeitsprüfung (Erheblichkeitsprüfung, fiktive) ergeben, wenn die später bekannt gewordene Tatsache erst nachträglich, z. B. infolge einer Rechtsprechungsänderung, eine Rechtserheblichkeit gewonnen hat.
b) Es werden nachträglich Tatsachen oder Beweismittel bekannt, die zu einer niedrigeren Steuer führen, und den Steuerpflichtigen trifft kein grobes Verschulden an dem nachträglichen Bekanntwerden, § 173 Abs. 1 Nr.2 AO. Für eine Änderung nach dieser Regel kommen nur solche Tatsachen in Betracht, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu einer niedrigeren Steuerfestsetzung geführt hätten, wenn sie zum Zeitpunkt des Erlasses des Bescheides bekannt gewesen wären (Erheblichkeitsprüfung, fiktive).
6) Der vom Gesetzgeber mit der Überschrift „Widerstreitende Steuerfestsetzungen” versehene § 174 AO bietet Änderungsmöglichkeiten für Fälle mit steuerbescheidübergreifenden falschen Sachverhaltsbeurteilungen. Ziel der Bestimmung ist es zum einen, die doppelte Besteuerung eines Sachverhaltes ebenso zu verhindern wie die mehrfache Berücksichtigung eines steuermindernden Umstandes. Insoweit regeln die Abs. 1 des § 174 AO Fälle widerstreitender Festsetzung. Unter widerstreitend ist zu verstehen, dass mehrere Bescheide, die nicht notwendigerweise denselben Steuerpflichtigen betreffen, denselben Sachverhalt erfassen, obwohl ein wechselseitiges Ausschließlichkeitsverhältnis besteht, welches eine mehrfache Berücksichtigung denkgesetzlich ausschließt. Die zweite Zielrichtung des § 174 AO besteht darin, mit seinen Abs. 4 und 5 unter bestimmten Voraussetzungen eine korrespondierende Behandlung eines einheitlichen Lebenssachverhaltes in mehreren Steuerbescheiden zu erreichen.
Die Vorschrift des § 174 AO hat vier Varianten:
a) Bei mehrfacher Berücksichtigung zuungunsten der/des Steuerpflichtigen kann der fehlerhafte
Bescheid auf Antrag geändert werden, § 174 Abs. 1 AO.
b) Bei mehrfacher Berücksichtigung zugunsten des/
der Steuerpflichtigen kann der falsche Bescheid berichtigt werden, falls die Berücksichtigung in
dem fehlerhaften Bescheid auf einen Antrag oder eine Erklärung des Steuerpflichtigen zurückzuführen ist, § 174 Abs. 2 AO.
c) Bei Nichtberücksichtigung eines Sachverhaltes in der für den Steuerpflichtigen erkennbaren irrigen
Annahme der Finanzbehörde, dass er in einem anderen Steuerbescheid zu berücksichtigen sei, kann der Bescheid korrigiert werden, § 174 Abs. 3 AO.
d) Bei der zugunsten eines Steuerpflichtigen vorgenommenen Änderung eines Steuerbescheides können andere Bescheide hinsichtlich des einheitlichen Lebenssachverhaltes korrespondierend geändert werden, § 174 Abs. 4 AO. Neben der Voraussetzung des einheitlichen Sachverhaltes ist erforderlich, dass die Anderung des ersten Bescheides aufgrund eines Rechtsbehelfs oder sonstigen Antrages des Steuerpflichtigen erfolgte. Sofern sich danach eine Änderung zulasten eines anderen Steuerpflichtigen ergibt, ist diese nur möglich, wenn der Dritte an dem zur Anderung des fehlerhaften Bescheides führenden Verfahren beteiligt wurde.
7) Nach § 175 Abs. 1 AO bestehen in den folgenden beiden Fällen Änderungsmöglichkeiten:
a) In der Praxis sehr häufige Folgeänderungen nach Erlass eines Grundlagenbescheides, dem Bindungswirkung für den zu ändernden Bescheid zukommt, § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO.
b) Änderungen aufgrund des Eintritts eines Ereignisses, das steuerliche Wirkung für die Vergangenheit hat (rückwirkendes Ereignis), § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO. Zu der Auslegung des Begriffs besteht eine umfangreiche Kasuistik, die insoweit eine Linie erkennen lässt, dass sehr exakt zu prüfen ist, ob ein Ereignis tatsächlich steuerrechtlich bedeutsam Wirkung schon in der Vergangenheit erzeugt, oder ob das fragliche Ereignis nur eine Sachlage im Nachhinein mit Wirkung für die Zukunft verändert.
8) Nach § 175a Abs. 1 AO besteht schließlich eine Änderungsmöglichkeit in Fällen, bei denen eine Vereinbarung oder Entscheidung in einer Verhandlung nach einem Doppelbesteuerungsabkommen getroffen wird (Verständigungsverfahren).
Änderung von Steuerverwaltungsakten, die keine Steuerbescheide sind (sonstige Steuerverwaltungsakte):
Sonstige Steuerverwaltungsakte können in den Fällen der Nichtigkeit und der offenbaren Unrichtigkeit nach denselben Grundsätzen geändert werden wie Steuerbescheide (s. o. unter 1] und 3]). Daneben ergeben sich aus den §§ 130, 131 AO weitere Änderungsmöglichkeiten, nämlich die Rücknahme eines rechtswidrigen
Verwaltungsaktes und der Widerruf eines rechtmäßigen Verwaltungsaktes Die Vorschriften entsprechen weitestgehend den Änderungsvorschriften der §§48,
49 des Verwaltungsverfahrensgesetzes. Schließlich gibt es in der AO und in Einzelsteuergesetzen noch einige Sondervorschriften für die Änderung sonstiger Verwaltungsakte.
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