Ermessen (Verwaltungsermessen)
1.
Gesetzliche Tatbestände können der Verwaltung ein bestimmtes Tun oder Unterlassen zwingend vorschreiben („Muss-Vorschrift“); man spricht in diesen Fällen von „gebundener“ Verwaltung. Das Gesetz kann es aber auch dem E. der Verwaltung überlassen, ob sie in bestimmten Fällen einschreiten (Opportunitätsprinzip) oder welche von mehreren in Betracht kommenden Entscheidungen sie treffen will. Der geringste Spielraum für die Betätigung des E. wird durch „Soll-Vorschriften“ eingeräumt (sog. gebundenes E.); hier kann die Verwaltung nur in besonderen Ausnahmefällen von der gesetzlich vorgesehenen Rechtsfolge abweichen. Die Formulierungen der Gesetze, die der Verwaltung „freies E.“ einräumen, sind verschieden (z. B. „kann“; „darf“ u. ä.). Auch in diesen Fällen kann aber die Verwaltung nicht nach ihrem Belieben verfahren, sondern hat ihr E. entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und die gesetzlichen Grenzen des E. einzuhalten (§ 40 VwVfG). Die Behörde hat ihre Entscheidung nach sachlichen Gesichtspunkten unter gerechter und billiger Abwägung des öffentlichen Interesses und der Belange des Bürgers zu treffen und insbes. die Grundsätze der Zweckmäßigkeit und der Verhältnismäßigkeit zu beachten. Das E. ist also nicht „frei“, sondern „pflichtgemäß“, d. h. in einer dem Sinn und Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise auszuüben. E.fehler (E.überschreitung, E.missbrauch) machen Maßnahmen der Verwaltung rechtswidrig. E.überschreitung liegt vor, wenn die Verwaltung den vom Gesetz festgelegten Rahmen des E. nicht einhält; E.missbrauch ist gegeben, wenn die Verwaltung ihre Entscheidung auf Grund gesetzwidriger Erwägungen (z. B. Verletzung des Gleichheitssatzes oder des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit; Berücksichtigung sachfremder oder willkürlicher Gesichtspunkte) trifft. Räumt das Gesetz der Verwaltung E.freiheit ein, so hat der Einzelne keinen Anspruch auf eine bestimmte Entscheidung. Bezweckt die Vorschrift jedoch zumindest auch den Schutz des Individualinteresses (Rechtsreflex), so besteht ein Anspruch auf fehlerfreie Betätigung des E. Die E.freiheit kann in besonderen Fällen so gering sein, dass nur eine einzige ermessensfehlerfreie Entscheidung denkbar ist, so dass der an sich nur auf fehlerfreie Betätigung des E. gehende Rechtsanspruch im Ergebnis einem Rechtsanspruch auf ein bestimmtes Verwaltungshandeln gleichkommen kann (E.reduzierung). Die Behörde kann sich durch gleichmäßigen E.gebrauch selbst binden; sie darf dann in gleichgearteten Fällen von ihrer Praxis ohne sachliche Gründe nicht abweichen (Auswirkung des Gleichheitssatzes).
2.
Die Nachprüfung von E.entscheidungen durch die Verwaltungsgerichte ist auf die Frage beschränkt, ob der Verwaltungsakt oder dessen Ablehnung oder Unterlassung deshalb rechtswidrig ist, weil die gesetzlichen Grenzen des E. überschritten sind oder von dem E. in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist (§ 114 VwGO). Die Verwaltungsbehörde kann ihre E.erwägungen hinsichtlich des Verwaltungsaktes auch noch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren ergänzen. Dagegen findet keine gerichtliche Überprüfung der E.entscheidung darauf statt, ob sie zweckmäßig war oder ob eine „bessere“ Entscheidung möglich gewesen wäre.
3.
Kein E. im oben dargelegten Sinn ist das sog. „kognitive“ E., das der Verwaltung bei der Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe (z. B. „öffentliches Wohl“, „Leichtigkeit des Verkehrs“, „Zuverlässigkeit“) eingeräumt wird. Ob die Verwaltung die Voraussetzung eines solchen Begriffs zutreffend bejaht oder verneint hat, kann von den Verwaltungsgerichten grundsätzlich in vollem Umfang nachgeprüft werden. Doch ist hierbei häufig ein sog. Beurteilungsspielraum zu gewähren; insoweit findet eine Prüfung nur auf Fehlerhaftigkeit infolge unrichtiger Ausgangspunkte oder nicht sachgerechter oder willkürlicher Erwägungen statt. Ein bedeutsames Beispiel bilden Prüfungsentscheidungen, die weitgehend von pädagogischen, im Einzelnen nicht gerichtlich überprüfbaren Wertungen abhängen. Voraussetzungen und Umfang des Beurteilungsspielraums sind im Einzelnen sehr str.
4.
Ebenfalls kein E. im oben dargelegten Sinne ist das sog. „richterliche E.“ (etwa bei der Strafzumessung). Der Richter wählt hier nicht zwischen mehreren möglichen Entscheidungen, sondern trifft innerhalb des ihm vom Gesetz zur Verfügung gestellten Rahmens die „allein richtige“ Entscheidung.
5.
Das E. im Steuerrecht (§ 5 AO, § 102 FGO) entspricht § 40 VwVfG, § 114 VwGO, Beispiele: Verspätungszuschlag, Stundung von Steuern, Billigkeitserlass.
Wenn einer Behörde oder einem Gericht vom Gesetz nicht genau vorgeschrieben wird, wie zu entscheiden ist, bleibt ein Ermessensspielraum für die Entscheidung. Man unterscheidet zwischen pflichtgemäßem und freiem Ermessen. Im ersteren Falle müssen bestehende allgemeine Richtlinien beachtet werden, im letzteren Falle mindestens der Gleichheitsgrundsatz. Auch Ermessensentscheidungen müssen begründet werden, um nachprüfbar zu sein. Sie können von den -»Verwaltungsgerichten oder höheren Instanzen überprüft werden daraufhin, ob das Ermessen «fehlerhaft» ausgeübt worden ist.
Im Sozialrecht:
Den Leistungsträgem wird an vielen Stellen des SGB Ermessen eingeräumt. Dies bringt der Gesetzgeber u.a. durch die Begriffe "kann", "darf", "ist befugt" zum Ausdruck. Ermessen steht den Leistungsträgem indessen nur zu, wenn dieses den Leistungsträgern zweifelsfrei eingeräumt wird (§39 Abs. S. 1 SGB I). Um Entschliessungsermessen handelt es sich, wenn der Behörde Ermessen bezüglich der Frage, ob sie tätig werden will, eingeräumt wird, um Auswahlermessen, wenn sie zwischen verschiedenen Massnahmen wählen kann. Ist Ermessen eingeräumt, hat der Betroffene nur Anspruch auf pflichtgemässe Ermessensausübung. Ein Anspruch besteht bei Ermessenleistungen nur ausnahmsweise, wenn das Ermessen auf Null, d.h. nur eine bestimmte Entscheidung rechtlich zulässig ist, reduziert ist. Bei der Ermessensausübung sind der Zweck der Ermächtigung und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens zu beachten (§39 Abs. 1 S. 1 SGB I). Ermessensfehlerhaft ist eine Entscheidung, bei der die Behörde kein Ermessen ausübt oder nicht alle in Betracht kommenden Massnahmen in ihre Entscheidung einbezieht (sog. Ermessensunterschreitung), sie eine Entscheidung trifft, die durch die Ermächtigungsnorm nicht gedeckt ist (sog. Ermessensüberschreitung) oder sie den Zweck der Ermessensnorm missachtet, den Sachverhalt unzureichend aufklärt, gegen höherrangiges Recht verstösst (sog. Ermessensfehlgebrauch). Ein solcher liegt auch dann vor, wenn die -^-sozialen Rechte nicht möglichst weitgehend verwirklicht werden (§ 2 Abs. 2 SGB I).
(§ 40 VwVfG) ist der auf Zweckmäßigkeit im Einzelnen Fall abstellende Maßstab für das Verwaltungshandeln. Hat eine Behörde E., so ist ihr Handeln nicht (schon) durch die Rechtsvorschriften, welche die Grundlage dafür bilden, eindeutig bestimmt, sondern es besteht ein gewisser Spielraum (z.B. Einbürgerung). Die Behörde ist auf die Lösung verwiesen, die angesichts der besonderen konkreten Umstände des Falls dem Zweck der Handlungsermächtigung am besten gerecht wird. Sie hat ihr E. entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten. Ob eine Vorschrift der Behörde E. einräumt, ist durch Auslegung zu ermitteln, wobei die Wörter kann, darf auf freies E. und soll auf gebundenes E. deuten. E. ist ausgeschlossen, wenn die Behörde bei Vorliegen der im gesetzlichen Tatbestand bezeichneten Voraussetzungen einen Verwaltungsakt erlassen muss oder nicht erlassen darf (gebundener Verwaltungsakt z.B. bei unbestimmten Rechtsbegriffen wie z.B. öffentliches Interesse). Ermessensfehler machen den Verwaltungsakt fehlerhaft und damit angreifbar. Im Privatrecht (§§315 ff. BGB) ist die Bestimmung der Leistung durch einen Dritten in der Regel nach billigem E. zu treffen. Lit.: Brinktrine, R., Verwaltungsermessen, 1998; Messerschmidt, K., Gesetzgebungsermessen, 2000; Stickelbrock, BInhalt und Grenzen richterlichen Ermessens im Zivilprozess, 2002; Rode, L., § 40 VwVfG und die deutsche Ermessenslehre, 2003
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