Verschlechterungsverbot
(reformatio in peius), besagt im Strafrecht, dass ein Urteil nicht zum Nachteil des Angeklagten (im Bussgeldverf. des Betroffenen) geändert werden darf, wenn nur er (oder die Staatsanwaltschaft zu seinen Gunsten) ein Rechtsmittel eingelegt hat (§§ 331, 358 StPO). Gilt nicht nach Einspruch gg. Strafbefehl, Strafverfügung, Bussgeldbescheid (Bussgeldverfahren), wenn aufgrund mündl. Verhandlung entschieden wird.
Wird eine behördliche oder gerichtliche Entscheidung mit einem Rechtsbehelf angefochten, darf mit der Rechtsbehelfsentscheidung (mit vielen Besonderheiten der einzelnen Verfahrensordnungen) regelmäßig die angefochtene Entscheidung nicht zum Nachteil des Rechtsbehelfsführers verändert werden (also keine Verböserung, keine reformatio in peius,) der angefochtenen Entscheidung.
Owi-Recht: Im Ordnungswidrigkeitenverfahren gilt das Verschlechterungsverbot nur eingeschränkt, d. h., im gerichtlichen Verfahren nach Einspruch gegen einen Bußgeldbescheid kann grundsätzlich gegen den Betroffenen eine ungünstigere Entscheidung ergehen, als sie der Bußgeldbescheid vorsah. Der Betroffene ist hierauf bereits im Bußgeldbescheid hinzuweisen (§ 66 Abs. 2 Nr.1 b OWiG). Entscheidet das Gericht jedoch nicht aufgrund mündlicher Verhandlung durch Urteil, sondern nach § 72 OWiG durch Beschluss ohne Hauptverhandlung, so darf es in seiner Entscheidung nicht zulasten des Betroffenen vom Bußgeldbescheid abweichen (§ 72 Abs. 3 S. 2 OWiG).
Steuerrecht: Bei der Bearbeitung eines Einspruchs gegen einen Steuerverwaltungsakt muss die Finanzbehörde den Verwaltungsakt in vollem Umfang überprüfen und kann ihn auch gem. § 367 Abs. 2 AO zum Nachteil des Steuerpflichtigen ändern. Allerdings muss dieser vorher auf die Möglichkeit der Verböserung hingewiesen werden, damit er Gelegenheit hat, sich zu den Gründen zu äußern. Sofern der Steuerbescheid nicht unter dem Vorbehalt der Nachprüfung steht, kann der Steuerpflichtige die nachteilige Änderung dadurch verhindern, dass er seinen Einspruch insgesamt zurücknimmt.
Strafprozessrecht: Für die Berufung (§331 StPO) und die Revision (§ 358 StPO) des Angeklagten oder der Staatsanwaltschaft zugunsten des Angeklagten gilt das Verbot der reformatio in peius hinsichtlich der Art und Höhe der Rechtsfolgen der Tat. Eine Änderung des Schuldspruchs zum Nachteil des Angeklagten ist nach h. M. möglich. Hat die Staatsanwaltschaft ein Rechtsmittel zuungunsten des Angeklagten eingelegt, ist eine Abänderung der Entscheidung zugunsten des Angeklagten möglich (§ 301 StPO).
Verwaltungsprozessrecht: im Widerspruchsverfahren oder gerichtlichen Verfahren vorgenommene Abänderung der Ausgangsentscheidung zuungunsten des Rechtsbehelfsführers.
Eine Verböserung im gerichtlichen Klageverfahren ist grds. unzulässig. Dies folgt bereits daraus, dass das VG gem. § 88 VwG() an das Klagebegehren gebunden ist. Das Verbot der reformatio in peius gilt ebenso im Rechtsmittelverfahren. Auch das Berufungsgericht ist gem. § 129 VwG() an die gestellten Anträge gebunden. Über § 141 VwG() gilt dasselbe im Revisionsverfahren. Für die Beschwerde ist zwar keine ausdrückliche Regelung vorhanden, es gelten allerdings die gleichen Grundsätze. Zulässig ist die Verböserung dagegen im Bereich der Anschlussrechtsmittel, da sich hier zwei widerstreitende Begehren gegenüber stehen. Anschlussberufung; Anschlussrevison.
Ob eine Verböserung im Widerspruchsverfahren zulässig ist, ist umstritten. Bedenken werden insb. im Hinblick auf die Rechtsschutzfunktion des Verfahrens erhoben. Der Bürger könnte wegen des Risikos einer Verböserung von der Einlegung eines Widerspruches abgehalten werden. Dies würde faktisch zu einer Beschränkung der Rechtsweggarantie des Art.19 Abs. 4 GG führen. Zudem fehle dem Bundesgesetzgeber die Kompetenz für eine entsprechende Regelung, da der Bund gem. Art.74 Abs. 1 Nr.1 GG das Vorverfahren lediglich als Sachurteilsvoraussetzung der späteren Klage regeln dürfe, aber nicht in verwaltungsverfahrensrechtlicher Hinsicht. Gleichwohl hält die h. M. eine reformatio in peius auch im Widerspruchsverfahren für zulässig. Die Widerspruchsbehörde habe gern. § 68 VwG() die Recht- und Zweckmäßigkeit des Verwaltungsaktes umfassend zu kontrollieren. Davon werde auch eine für den Widerspruchsführer negative Entscheidung erfasst. Das Verwaltungsverfahren sei, wie § 79 Abs. 1 Nr.1 VwG() deutlich mache (Gegenstand der Anfechtungsklage ist der Verwaltungsakt in der Gestalt des Widerspruchsbescheides), erst mit Erlass des Widerspruchsbescheides abgeschlossen. Der Bürger könne daher nicht sicher darauf vertrauen, dass eine Verschlechterung des Verwaltungsaktes unterbleibe.
Die Zuständigkeit der Widerspruchsbehörde für eine Verböserung ist unproblematisch wenn sie mit der Ausgangsbehörde identisch ist. Ist dies nicht der Fall (entscheidet z. B. nach § 73 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 VwG() die nächsthöhere Behörde), so folgt die Zuständigkeit für die Verböserung nach h. M. zwar nicht schon aus §§68, 73 VwGO, aber als gewohnheitsrechtlicher Annex zur Fachaufsicht. In verfahrensrechtlicher Hinsicht muss vor der Verböserung gem. §71 VwGO eine Anhörung erfolgen. Unterbleibt diese handelt es sich um einen wesentlichen Verfahrensverstoß, der stets eine isolierte Anfechtung des Widerspruchsbescheides gem. § 79 Abs. 2 S. 2 VwG() rechtfertigt.
Ermächtigungsgrundlage für die verbösernde Entscheidung ist die sachliche Ermächtigungsgrundlage der Ausgangsbehörde. Nach der Gegenansicht stellt jede Verböserung eine Teilaufhebung des ursprünglichen VA dar und sei daher nach §§48, 49 VwVfG zu beurteilen. Dagegen spricht jedoch, dass die Widerspruchsbehörde aufgrund des Devolutiveffekts
die ursprüngliche Entscheidungskompetenz der Ausgangsbehörde erhält.
Die verbösernde Entscheidung kann entweder durch Klage isoliert gegen den Widerspruchsbescheid (§ 79 Abs. 2 S. 1 VwGO) oder im Rahmen einer Klage gegen den Ausgangsbescheid in der Gestalt des Widerspruchsbescheides (§79 Abs. 1 Nr. 1 VwGO) angefochten werden. Anfechtungsklage
Zivilprozessrecht: In der Berufung und der Revision ist das Rechtsmittelgericht an den Antrag des Rechtsmittelführers gebunden (§§ 528, 557 ZPO) und kann daher nicht zu dessen Lasten das angefochtene Urteil ändern.
Das Verbot der reformatio in peius gilt aber nicht für die Kostenentscheidung der angefochtenen Entscheidung, so dass — auch ohne Antrag des Rechtsrnittelgegners — vom Rechtsmittelgericht zum Nachteil des Rechtsmittelführers abgeändert werden kann (vgl. § 308 Abs. 2 ZPO).
Will der Rechtsmittelgegner die Möglichkeit einer Urteilsabänderung zulasten des Rechtsmittelführers eröffnen, muss er Anschlussberufung bzw. Anschlussrevision oder Anschlussbeschwerde einlegen.
reformatio in peius.
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